Das
neue Europa:
Staat, Kirche, "Sekten" und die europäische "Wertegemeinschaft""
"Das künftige Europa wird nur dann eine
Rechtsgemeinschaft sein können, in der alle Bürger der Länder europäischer
Tradition ein gemeinsames Dach finden, wenn es Gemeinschaften mit gemeinsamen
Wertschätzungen ermöglicht und schützt, selbst aber darauf verzichtet, eine
Wertegemeinschaft zu sein."
Europa -
Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung?
Von Robert Spaemann, Professor
em. für Philosophie an der Universität München.
Volltext:
http://www.iwm.at/t-21txt9.htm
Transit - Europäische Revue, Nr. 21/2002
1. Seit einigen Jahren hat ein Begriff in
die politische Sphäre Einzug gehalten, der dort von
Rechts wegen nichts zu suchen hat: der Begriff der
"Sekte". "Sekte" ist ein negativ besetzter Ausdruck, mit dem traditionelle
christliche Kirchen kleinere christliche Gemeinschaften bezeichnen, die
sich von diesen Kirchen aus Gründen des
Glaubensbekenntnisses oder der religiösen Praxis
abgespalten haben. In der Sprache der staatlichen Rechtsordnung hat
dieser Begriff eigentlich nichts verloren.
Jeder Zusammenschluss von Bürgern aufgrund gemeinsamer Überzeugungen muss
dem Staat gleich gelten, solange er nicht gegen die für alle geltenden
Gesetze verstößt oder zu solchem Verstoß auffordert. Das ist aber leider
nicht mehr der Fall. Sekten werden unter staatliche Beobachtung gestellt,
es wird von Staats wegen vor ihnen gewarnt, und ihre
Mitglieder werden von öffentlichen Ämtern möglichst
ferngehalten. In dem neuen politischen Verständnis
sind Sekten Gemeinschaften, die sich durch gemeinsame
Überzeugungen definieren, Überzeugungen, die von denen der Mehrheit der
Bürger oder der politischen Klasse abweichen. Kriterium für den
Sektencharakter einer Gruppe ist ferner, dass sie für ihre Überzeugung
missionarisch wirbt, und schließlich dass sie einen starken
Binnenzusammenhalt besitzt, oft auch eine strenge hierarchische Struktur
sowie manchmal eine charismatische
Persönlichkeit an ihrer Spitze.
Da all diese Kriterien vage sind und da es in liberalen Staaten bisher nicht
verboten ist, solchen Gemeinschaften anzugehören, ist die Aufnahme in den
Katalog der Sekten eine Ermessensfrage für die Inhaber des öffentlichen
Interpretationsmonopols, und ihre Verfolgung geschieht in der Regel durch
informellen Druck, vor allem durch Diskriminierung ihrer Mitglieder.
Warum kann ein Staat etwas gegen Sekten haben? Nur
darum, weil er anfängt, sich selbst als
"Gemeinschaft", als Wertegemeinschaft zu verstehen, als
Großkirche, die Dissidentengemeinschaften ausschließt.
Als einen der drei höchsten Werte, zu deren Verinnerlichung jeder Bürger
verpflichtet sein soll, bezeichnete der französische Staatspräsident
unlängst die Toleranz. Toleranz gegen Anderssein ist wertvoll, weil
Selbstsein, Identität es wert ist, respektiert zu werden. Toleranz
bedeutet Geltenlassen von Anderssein, ethnischem,
kulturellem, sexuellem oder überzeugungsmäßigem
Anderssein. Toleranz ist ein hoher Wert, weil er in der
Würde menschlichen Selbstseins gründet. Ich kann Achtung verlangen vor
meiner Überzeugung auch von dem, der sie für falsch hält, weil die
Achtung nicht dem Inhalt meiner Überzeugung, sondern
mir gilt, der ich mich mit ihr identifiziere.
Wenn der Andere die Überzeugung für schlecht hält, wird er, wenn er mir wohl
will, versuchen, sie mir auszureden. Wir werden streiten und uns
gleichzeitig tolerieren. Die Verankerung der Toleranz in der Überzeugung
von der Würde der Person ist eine solide Verankerung.
Wo hingegen Toleranz zum höchsten Wert stilisiert
wird, wo sie selbst an die Stelle der Überzeugungen
tritt, die zu respektieren sind, da wird sie grundlos und hebt sich selbst
auf. Die Forderung, andere Überzeugungen zu achten, wird zur Forderung,
keine Überzeugungen zu haben, aufgrund deren man gegenteilige für falsch
hält und die man nicht als Hypothese zur Disposition zu stellen bereit
ist. Überzeugungen also, die man auch anderen
nahezubringen versucht und aufgrund
deren man anderen die ihrigen auszureden versucht. Überzeugungen zu
haben, ist dann bereits Intoleranz. Die
Toleranzforderung verwandelt sich in eine intolerante
Dogmatisierung des Relativismus als der herrschenden
Weltanschauung, die den Menschen schrankenlos disponibel macht für jede Art
von kollektiver Zumutung.
Das Schlagwort, das man für Überzeugungen bereithält, lautet:
"Fundamentalismus". John Rawls, der des Fundamentalismus sicher
unverdächtig ist, hat unlängst betont, dass ein Satz
wie "Außerhalb der Kirche ist kein Heil" überhaupt
nicht im Gegensatz stehen muss zu einer liberalen
Gesellschaft, solange nämlich nicht versucht wird, Menschen mit Hilfe des
staatlichen Arms zu ihrem Heil zu zwingen.
Die christlichen Kirchen sind schlecht beraten, wenn sie ihre Sektenkritik
mit der staatlichen verbinden und sich nicht
schützend vor diese Gruppen stellen, auch wenn sie
deren Überzeugungen für falsch halten. Wenn sie selbst
weiter wie bisher schrumpfen, ist es ohnehin nur eine Frage der Zeit,
bis sie selbst öffentlich als Sekten wahrgenommen werden. Dass die
gegenwärtige Katholische Kirche eine Großsekte sei, kann man bereits bei
Hans Küng lesen, und wenn man die eben genannten Kriterien zugrunde legt,
ist das nicht einmal falsch. Man schilt sie ja seit je intolerant, weil
sie sich selbst durch bestimmte Glaubensüberzeugungen
definiert. Sie kann und will seit langem für die
Durchsetzung dieser Überzeugungen nicht mehr den
staatlichen Arm bemühen.
Aber nun beginnt der staatliche Arm von sich aus, sich eine Zivilreligion
zuzulegen. Die europäischen Rechtsordnungen gründeten zwar selbst in
bestimmten Überzeugungen, vor allem in der von der Würde der Person, und
eben deshalb verzichteten sie darauf, Überzeugungen oder deren
Verwerfung zur Pflicht zu machen. Die mühsam
erworbene Errungenschaft des liberalen
Rechtsstaats wird wieder preisgegeben, wenn der Staat sich als
Wertegemeinschaft versteht, auch wenn es eine "liberale"
Wertegemeinschaft ist, die Liberalismus als
Weltanschauung statt als Rechtsordnung versteht.
Die Sektenverfolgung ist ein ziemlich sicherer Indikator für die hier
drohende Gefahr, die Gefahr eines liberalen Totalitarismus.