Für die Angst anderer bezahlen

Hannes Roland
hinterfragt  Sinn und   Motiv der staatlich sanktionierten Diskriminierung von "Sekten" in Frankreich (und Österreich)


Angst kommt in der Regel von einer Unsicherheit, etwas nicht bewältigen zu können. Um Angst daher zu lösen, muss zuerst die Unsicherheit beseitigt werden. Wie anderswo auch kann man nun zwischen zwei grundsätzlichen Lösungsrichtungen wählen. Die eine ist, an sich selbst zu arbeiten, sich weiterzubilden und sicherer zu machen, um so die angstauslösenden Schwachstellen in Qualifikationen umzuwandeln. Die andere, entgegengesetzte, ist, den Auslöser zu einem Gegner hochzuspielen, um sich so die Berechtigung und auch die Unterstützung anderer zu holen, ihn vernichten zu können - wenn es sein muß auch unter Gewaltanwendung. Dabei muss Gewalt nicht immer physische Gewalt sein.

Der Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten ist schon deswegen gravierend, weil die erstere einen Fortschritt zumindest offen lässt oder gar ermöglicht und auch in Richtung einer Lösung geht, in der nicht die Gewalt sondern die Qualifikation die Oberhand gewinnen kann. Der Bessere nimmt die Herausforderung an und wird noch besser, und so bleibt der andere weit dahinter zurück.

Der zweite Weg endet unweigerlich in einem Krieg, in dem nicht mehr die Vernunft und auch nicht die tatsächliche Qualifikation zählt, sondern nur noch Macht und Gewalt die entscheidende Rolle spielen. Der Stärkere siegt, mit welchen Mitteln auch immer. Am Ende steht fest: Sieger ist Sieger. Das Ausgangsproblem ist damit zwar unterdrückt und scheinbar aus dem Weg geschafft, die Lösung aber ist noch weit entfernt. Im Unterdrückten prodelt das ungelöste Problem unterschwellig fort, findet Wege aus der Unterdrückung auszubrechen und stellt sich irgendwann erneut einer Herausforderung und einem Kampf. Was hier noch dazu kommt, aber oft unberücksichtigt bleibt, ist die aufgestaute Rache im Unterdrückten und der Groll, der durch die Gewaltmethoden entstanden ist, die an ihm angewandt wurden.

Das Auftreten von Sekten in einer Gesellschaft beispielsweise ist schon deswegen zu begrüßen und ich möchte sogar sagen als gut und wichtig zu erachten, weil das "Establishment" durch sie herausgefordert wird sich selbst zu prüfen und zu reinigen. So bleibt es am Ball und die Qualität bleibt erhalten und wird durch diese Herausforderung noch verbessert. Die eigentliche Frage ist daher nicht: "Wie schlecht sind die Sekten oder wie schlecht muss man sie machen, dass sie nur ja von allen gehasst werden"? Viel wichtiger ist die Frage: "Wie gut ist das Establishment"? Die Qualität des Establishments zeigt sich immer auch daran, wie man mit neuen Ideen oder neuen Gruppen umgeht.

Ist das Establishment gut, so haben Eindringlinge wie Sekten ohnehin keine Chance. Dennoch können sie wie gesagt einen vielleicht dringend notwendigen Reinigungsprozess in Gang setzen. Es wird keine hasserfüllte Gegnerschaft entstehen, die unweigerlich zu einem Kampf, ja einem Krieg führt, in dem die Moral immer schwer zu erklären ist. Oder können Sie einem Kind erklären, warum es gut und rechtens ist, dass sein Papa den Papa eines anderen Kindes umbringen oder die Mama eines anderen Kindes missbrauchen darf oder sogar muss, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen?

Zu reagieren, indem man sich auf den zweiten Lösungsweg versteift, also neue religiöse Bewegungen kurzerhand in einen Topf schmeißt, sie "Sekten" nennt und zum Feindbild erklärt und sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft, führt zwar zu einem durchaus nicht uninteressanten Machtspiel mit vielleicht faszinierenden Facetten, deren Aufzeichnungen zahlreiche Bücher füllen können, die wiederum später noch viele Menschen beschäftigen, aber einer Lösung bringt uns diese Methode nicht näher. Die Sekten werden dadurch nicht besser und das Establishment leider auch nicht. Alles beschränkt sich auf kampfschürende Gegnerschaft. Es kommt nur noch darauf an, wer die größere Macht auf seine Seite bringen kann, denn in diesem grausamen Spiel wird die Vernunft nur noch dahingehend entwürdigt eingesetzt, dem Ansammeln der Macht zu dienen und nicht der Wahrheit. Die Macht ist schließlich, die entscheidet. Der Ball wechselt mit guten Argumenten von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Damit sind alle Seiten untereinander, miteinander und gegeneinander zwar gehörig beschäftigt, die Weiterentwicklung jedoch stagniert auf beiden Seiten und das, obwohl so enorm viel investiert wird.

Wie in Österreich vor einigen Jahren, so sind nun auch in Frankreich gewisse Kräfte dabei eine Gesetzesvorlage durchzudrücken, die sogar soweit geht, dass Bekenntnisgemeinschaften wie der des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton oder seines Vizepräsidenten Al Gore, die beide Baptisten sind, das Sektenmal aufgebrannt wird, mit der Option, eine Gemeinschaft einfach auflösen zu können, wenn es in der Führung weltweit zwei von Gerichten verurteilte Personen gibt. In die Geschichte zurückblickend wird aber schnell deutlich, dass gute Menschen immer bekämpft und unter den fadenscheinigsten Argumenten verurteilt, ja selbst getötet wurden. Nach diesen Regeln müsste das gesamte Konsortium der christlichen Kirchen schnellstens aufgelöst und verboten werden, denn sowohl Jesus als auch Petrus und Paulus und zahlreiche Märtyrer und Heilige wurden von Gerichten verurteilt und getötet. Kann das auch nur irgendwie ein Lösungsansatz sein?

Wie politisch die Eu-Sanktionen gegen Österreich, so erscheinen seitens der Religion die Kampfmaßnahmen gegen Sekten in ganz Europa wie Rundumschläge eines angsterfüllten auf wackeligen Beinen stehenden Kolosses, das sich scheut den ersten Lösungsweg einzuschlagen. Was immer die Gründe dafür sein mögen, der zweite Weg kann nicht einmal theoretisch zu einer zufriedenstellenden Dauerlösung führen. Er beschränkt sich darauf die neuen religiösen Gruppen als Sekten zu brandmarken und mit allen religiösen, politischen und gesetzlichen Mitteln niederzumachen. Am Liebsten, so scheint es zumindest, wäre es den Sektenstellen aller Couleurs einen legalen Weg bahnen zu können, die Sekten einfach auszurotten. So würden Sektenbekämpfer, wie damals die Inquisitoren auch, in den Augen der Öffentlichkeit noch als Helden dastehen, die eine großartige Tat vollbracht haben. Nicht nur in Frankreich, sondern auch die Sektenbeauftragten in Kirche und Staat in Österreich müssen sich zumindest vier wichtige Fragen stellen:

  1. Welchem der beiden oben skizzierten Wege steht ihr erklärter Kampf gegen Sekten näher und zu welchem Erfolg kann dieser auf Dauer gesehen führen?
     

  2. Was wird in kirchlichen Sektenreferaten und amtlichen Sektenstellen unternommen, um dauerhafte Lösungsansätze auszuarbeiten und nicht nur weiterhin die ausgefahrenen, hassschürenden Geleise der Vergangenheit zu befahren?
     

  3. Ist es gerechtfertigt, dass zu Gegnern hochgespielte in Wirklichkeit bis auf wenige Ausnahmen aber harmlose "Sekten" den Preis für die Unsicherheit und Angst von Kirche und Staat bezahlen müssen? Mussten Jesus und seine unzähligen von Gerichten verurteilten Nachfolger nicht auch für die Ängste anderer bezahlen oder gar ihr Leben lassen?
     

  4. Wie sollten Sektenbeauftragte, die um dauerhafte Lösungen auf beiden Seiten bemüht sind, ihren Kollegen in Frankreich klarmachen, auf welch kurzsichtigem Holzweg sie sich mit derartigen Bemühungen befinden, auch dann, wenn sie "erfolgreich" sein sollten?