Die Garantie der Religionsfreiheit und die Stellung von Religionsgemeinschaften in der Europäischen Verfassung

 

von Karin Reichmann


Einleitung

 

Vorauszuschicken ist, dass das Europarecht eine Reihe von Bestimmungen enthält, welche unmittelbar Bezug auf die Religion, das religiöse und kulturelle Erbe wie auch die individuelle und kollektive Religionsfreiheit nehmen. Die Rechtsposition von Kirchen und Religionsgemeinschaften ist bis dato eher schwach abgesichert. Einerseits ist dies erwünscht, weil die EU für Fragen bezüglich Religion und Weltanschauungsgemeinschaften nicht zuständig sein soll, insbesondere keine Harmonisierung des Rechts betreiben soll. Andererseits werden Religionsgemeinschaften nicht selten mit europarechtlichen Vorschriften konfrontiert, die sie betreffen und die sie mitunter als problematisch ansehen.

 

Für einen umfassenden Überblick - auch über einschlägige Regelungen in der EMRK (Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten) und der Europäischen Sozialcharta – kann folgende Website empfohlen werden:

 

http://www.uni-trier.de/~ievr/EUreligionsrecht/DeutschTeilI.pdf

 

Verfassungsvertrag der Europäischen Union

 

Der Verfassungsvertrag der Europäischen Union (VVE) wurde am 29.10.2004 in Rom unterzeichnet und ist nunmehr Gegenstand der nationalen Ratifikationsverfahren. In Kraft tritt der VVE somit erst, nachdem er in allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.

 

Einleitend stellt Art. I-9 VVE „Grundrechte“ klar, dass die Union die in der Grundrechtecharta (GRC) enthaltenen Rechte, Freiheiten und Gründsätze anerkennt (Abs 1), die Union der EMRK (Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten) beitritt (Abs 2) und schließlich, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze einen Teil des Unionsrechts bilden.

 

Dies bedeutet, dass die grundrechtlichen Gewährleistungen in der EMRK – insbesondere auch Art. 9 EMRK „Gedanken-, Gewissens und Religionsfreiheit“ - und die Judikatur des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) in der EU Geltung besitzen.

 

Grundrechtecharta (Teil II der VVE)

 

Ø     Art. II-70 VVE

 

Die Europäische Verfassung beinhaltet in Art. II-70 VVE die umfassende Gewährleistung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.

 

(1)    Jede Person hat das Recht auf Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.

    

(2)    Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.
 

Das in Absatz 2 garantierte Recht resultiert aus den nationalen Verfassungstraditionen und der Entwicklung der nationalen Gesetzgebungen in dieser Frage.

 

Das in Absatz 1 garantierte Recht entspricht dem in Art. 9 Abs 1 EMRK gewährleisteten Recht. Demzufolge hat es gemäß Art. II-112 Abs 3 VVE auch die gleiche Bedeutung und Tragweite wie dieses. Mangels ausdrücklicher Schrankenbestimmungen in der Grundrechtecharta (GRC) selbst, sind Einschränkungen von Art. II-70 VVE nur unter Wahrung von Art. 9 Abs 2 EMRK (materieller Gesetzesvorbehalt) zulässig. Verlangt werden demnach eine gesetzliche Grundlage für den Eingriff, ein zulässiger Eingriffsgrund sowie die Notwendigkeit der Rechtseinschränkung in einer demokratischen Gesellschaft, welche nur anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unter Abwägung aller Interessen überprüft werden kann.

 

a)  Individuelle Religionsfreiheit

 

Generell unterscheidet man zwischen drei Dimensionen der Religionsfreiheit – der individuellen, kollektiven und korporativen Religionsfreiheit.

 

Art. II-70 VVE gewährleistet die individuelle Religionsfreiheit (sowohl die positive, d.h. die „Freiheit zu Religion“, als auch die negative, d.h. die „Freiheit von Religion“) in vollem Umfang. Die negative Religionsfreiheit findet im Gegensatz zur positiven Religionsfreiheit keine ausdrückliche Verankerung - geschützt werden aber beide Formen. Im Einklang mit Art. 9 EMRK und anderen völkerrechtlichen Garantien (Art. 18 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, Art. 18 Abs 1 Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966), wird in Art. II-70 VVE zwischen den Aspekten der Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit differenziert und hinsichtlich ihres Schutzbereichs unterschieden. Art. II-70 VVE erwähnt einige Modalitäten der Religionsfreiheit ausdrücklich, nämlich das Bekenntnis durch „Gottesdienst, Unterricht“ sowie „Bräuche und Riten.“ Die Aufzählung ist nicht als abschließend zu werten, deutet aber doch darauf hin, dass nicht jede Handlung die religiös motiviert ist, von Art. II-70 VVE erfasst ist. Bedeutung für die nähere Ausformung der Religionsfreiheit und ihres Inhalts hat die Auslegung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK erlangen.

 

b)  Kollektive Religionsfreiheit

 

Schon dem Wortlaut nach garantiert Art. II-70 VVE neben der individuellen auch die kollektive Religionsfreiheit („einzeln oder gemeinsam mit anderen“).

 

c) Korporative Religionsfreiheit

 

Hingegen fehlt eine explizite Gewährleistung der korporativen Religionsfreiheit, welche die Freiheit der Religionsgemeinschaften und religiösen Vereine als solche schützt und ihnen eine eigenständige, von den Grundrechten ihrer Mitglieder unabhängige, Grundrechtsträgerschaft vermittelt, womit auch der Anspruch verbunden ist, sich als Personengemeinschaft unmittelbar auf Art. II-70 VVE zu berufen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des EuGH (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), welcher mehrfach eine Grundrechts-berechtigung juristischer Personen anerkannt hat und vor allem aufgrund der Judikatur des EGMR (die gemäß Art. 112 Abs 3 VVE für die Interpretation der Grundrechte der EU heranzuziehen ist), wonach Kirchen und Religionsgemeinschaften Träger des Rechts aus Art. 9 EMRK darstellen, ist aber davon auszugehen, dass die Religionsfreiheit nach Art. II-70 VVE auch Personengemeinschaften als eigenes Grundrecht zusteht. Die Gedanken-, und die Gewissensfreiheit sind im Gegensatz dazu schon ihrem Wesen nach nicht auf Personenvereinigungen anwendbar. Zudem besteht kein Recht auf eine bestimmte Form der korporativen Verfassung.

 

Die Europäische Verfassung (wie auch die EMRK) gewährleistet somit alle drei Dimensionen der Religionsfreiheit.

 

Weitere religionsrelevante Bestimmungen in der Grundrechtecharta (Teil II der VVE)

 

Ø     Art. II-74 „Recht auf Bildung“ gewährleistet in Abs 3,

 

„[…] das Recht der Eltern die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen , weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen […]“

 

Die Umsetzung dieses Rechts obliegt dabei den Mitgliedstaaten.

 

Die Regelung selbst entspricht im wesentlichen Art. 2 „Recht auf Bildung“ des 10. Zusatzprotokolls der EMRK vom 20.3.1952, geändert durch Protokoll vom 11.5.1994.

 

Ø     Weiters bestimmt Art. II-81 „Nichtdiskriminierung“ in Abs 1, dass

 

   „Diskriminierungen insbesondere aufgrund […] der Religion oder Weltanschauung

     verboten sind.

 

Ergänzende Nichtdiskriminierungsbestimmungen aufgrund von Religion enthalten Art. III-118 VVE, der dazu verpflichtet bei der Festlegung und Durchführung von Politiken der in Teil I genannten Bereiche, Diskriminierungen u.a. aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung zu bekämpfen und Art. III-124 VVE, der zu diesem Zwecke die Erlassung von Maßnahmen vorsieht.

 

Zu erwähnen ist insbesondere auch die RL 2000/78/EG, mit der ein allgemeiner Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festgelegt werden soll. Ihr zufolge ist die unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung durch Arbeitgeber verboten.

 

Als Sonderregelung sieht Art. 4 Abs 2 der RL vor, dass (aufgrund von Religion) diskriminierende nationale Bestimmungen bezüglich der Berufstätigkeit in Kirchen und anderen öffentlichen und privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, beibehalten werden können - und insofern keine Diskriminierungen darstellen - wenn die Religion der diskriminierten Person nach der Art der Tätigkeit eine wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Damit wird auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, d.h. darauf Rücksicht genommen, dass die Kirchen ihr Arbeitsrecht nach anderen Kriterien als übliche Arbeitgeber regeln können.

 

Österreich hat die RL 2000/78/EG erst am 1.7.2004 durch das neue Gleichbehandlungsgesetz und die Novelle zum Bundesgleichbehandlungsgesetz umgesetzt. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Religion wurde in Teil II des Gleichbehandlungsgesetzes verankert.

 

 

Ø     Art. II-82 VVE verpflichtet die EU zur „Achtung der Kulturen, Religionen und Sprachen.

 

Ø     Auch andere in der Grundrechtscharta verankerte Rechte sind von religiösen Werten inspiriert. Am deutlichsten zeigt sich das in Titel I über die Menschenwürde, etwa beim Verbot eugenischer Praktiken und des reproduktiven Klonens (II-63 Abs 2 VVE).

 

Gottesbezug ?

 

Weder in der Grundrechtecharta noch in der Verfassung findet sich eine Bezugnahme auf Gott oder die Verantwortung vor ihm. Dies resultiert zum Teil aus dem Einfluss des französischen Laizismus, zum Teil aus der Tatsache, dass viele europäische Bürger Kirche und Religion kritisch gegenüberstehen oder eine Reihe von Christen den Glauben aus der Sphäre des Staatlichen heraushalten wollen.

 

Anstelle eines Gottesbezuges spricht die Präambel der Grundrechtecharta daher vom Bewusstsein des „geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ der Union, was im Wesentlichen eine Kompromissformel mit dem französischen Laizismus darstellt. Aufgrund diverser Streitigkeiten bei der Aufnahme der Charta in den Verfassungsvertrag, wurde nur in der deutschen und der polnischen Fassung der Bezug auf das religiöse Erbe beibehalten. Alle anderen Sprachfassungen erwähnen allein das geistige („spirituelle“) Erbe.

 

Die Präambel der Gesamtverfassung legt hingegen im 1. Erwägungsgrund fest, dass die Hohen Vertragsparteien „schöpfend aus dem […] religiösen […] Erbe Europas“ über den Vertrag übereingekommen sind. Um dem laizistischen Prinzip der französischen Verfassung genüge zu tun, wird diese Aussage durch den Hinweis darauf relativiert, dass sich aus diesem Erbe „die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“.

 

 

Selbstbestimmungsrecht und Stellung der Religionsgemeinschaften

 

Die in Teil II inkorporierte GRC enthält keine Bestimmungen über die Stellung der Kirchen. Dies, um der Vielfalt mitgliedstaatlicher Regelungen gerecht zu werden.

 

Ø     Auslegung von Art. II-70 VVE anhand der Rechtsprechung des EGMR und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten

 

Inwieweit aus Art.II-70 VVE ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religions-gemeinschaften (d.h. das Recht ihre inneren Angelegenheiten selbständig, aber  innerhalb der gesetzlichen Schranken, zu ordnen und zu verwalten) zu entnehmen ist, lässt sich nur durch Auslegung ermittelt. Aufgrund der Anlehnung von Art. II-70 VVE an Art. 9 EMRK ist zunächst die Rechtsprechung des EGMR heranzuziehen.

 

Der EGMR hat bereits mehrfach betont, dass die autonome Existenz der Religionsgemeinschaften unentbehrlich für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft ist und es eine Verletzung von Art. 9 EMRK darstellt, wenn sich ein Konventionsstaat in die inneren Angelegenheiten (sog. „organisational life“) von Religionsgemeinschaften einmischt. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist demnach als Teil der Religionsfreiheit  zu werten und vom Schutzbereich des Art. 9 EMRK erfasst.

 

Neben der Judikatur des EGMR zu Art. 9 EMRK dienen die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als weitere Auslegungsquelle (Art. I-9 Abs 3 iVm 112 Abs 4 VVE). In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Achtung des religiösen Selbstbestimmungs-rechts in vielfältiger Form in den Verfassungen der Mitgliedstaaten - auch den neu hinzugetretenen Ländern - verankert ist (vgl etwa Art. 8 italienische Verfassung, Art. 21 belgische Verfassung, Art. 140 GG iVm 137 Abs 3 WRV für Deutschland, Art. 25 Abs 3 polnische Verfassung, Art. 15 StGG, der in Österreich nur jeder gesetzlich anerkannten Kirche und Religionsgemeinschaft das Recht gewährt, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, etc). Vor diesem Hintergrund kann das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften durchaus als Ausdruck einer gemeinsamen Verfassungsüberlieferung in den Mitgliedstaaten gewertet werden und findet darin eine weitere Stütze im Verfassungsvertrag.

 

Ø     Selbstbestimmungsrecht aufgrund des Kirchenartikels Art. I-52 VVE

 

Bislang ließ sich das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nur aus Art. 6 Abs 3 EUV, der die Achtung der nationalen Identität vorschreibt und Art. 151 EGV, der die Gemeinschaft zur Wahrung und Förderung der nationalen, aber auch regionalen Vielfalt bei gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes verpflichtet, entnehmen.  Da die meisten staatskirchenrechtlichen Systeme als Ausprägungen der nationalen sowie regionalen Identität und Vielfalt anzusehen sind, stehen sie unter dem Schutz der nationalen Identität und kulturellen Vielfalt.

 

Ein Ansatz zur Begründung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts könnte in in Art. I- 52 VVE gesehen werden. Mit diesem wurde der Inhalt der Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die der Schlussakte des Amsterdamer Vertrags von 1997 angefügt wurde, erstmals in die Verfassung (und nicht außerhalb als Protokoll) integriert. Art. I-52 VVE wird allgemein als Dreh- und Angelpunkt eines europäischen Religionsverfassungsrechts angesehen. 

 

Absatz 1 zufolge achtet die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.

Gemäß Absatz 2 achtet die Union in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. Damit werden die weltanschaulichen Gemeinschaften den Religionsgemeinschaften explizit gleichgestellt.

In Erweiterung der eben genannten und aus der Kirchenerklärung übernommenen Bestimmungen verpflichtet sich die Union in Absatz 3 mit diesen Kirchen und Gemeinschaften - in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags - einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog zu führen.

 

Ergänzend dazu achtet die Union, wie schon erwähnt, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen (Art. II-82 VVE).

 

Mit der direkten Übernahme der Erklärung Nr. 11 in den Verfassungsvertrag reagiert das europäische Primärrecht erstmals ausdrücklich auf die Tatsache, dass in den Mitgliedstaaten unterschiedlichste Systeme des Verhältnisses von Staat und Kirche existieren, die ihrerseits fest in den historischen und kulturellen Grundlagen der jeweiligen Verfassungen verwurzelt und damit Teil der nationalen Identität der Staaten und Ausdruck ihrer kulturellen Vielfalt sind. Diese Bandbreite von diversen verfassungsrechtlichen Vorgaben verbietet es, die jeweiligen Regelungen in den Mitgliedstaaten als Teil des gesamteuropäischen Verfassungsrechts zu interpretieren und als allgemeiner Standard für ein europäisches Staatskirchenrecht anzusehen.

 

a)     Achtung des Status der Kirchen und weltanschaulichen Religionsgemeinschaften

 

Letzteres kommt in Abs 1 zum Ausdruck, der schon seinem Wortlaut nach abwehrrechtlich ausgerichtet ist und darauf angelegt ist den höchst unterschiedlichen Status, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten genießen, zu gewährleisten. Damit werden gleichzeitig die Vielfalt und die Besonderheiten garantiert, die in Hinblick auf den organsationsrechtlichen Status von Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten vorfindbar sind.

 

Weiters kommt der Vorschrift struktursichernde Funktion zu. Sie verpflichtet die Union, die generelle Festlegung des Staat-Kirchen-Verhältnisses den Mitgliedstaaten zu überlassen. Mangels ausdrücklicher Kompetenz (weder zur Rechtsetzung noch zur Rechtsangleichung) wird der Union somit sowohl eine Harmonisierung der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse als auch die Schaffung eines eigenständigen europäischen Staatskirchensrechtes verwehrt. Diese Zurückhaltung ist Ausdruck der Erkenntnis, dass die Union in „Vielfalt geeint ist“ (vgl Präambel) und diese Vielfalt, gekoppelt mit dem Gebot zur Rücksichtnahme auf nationale Besonderheiten, sich nicht zuletzt in diversen Vorstellungen von einem angemessenen Verhältnis zwischen Staat und Kirche niederschlägt.

 

Darüber hinaus lässt Art. I-52 VVE einen wesentlich größeren Spielraum für die Beibehaltung mitgliedstaatlicher religionsverfassungsrechtlicher Vorstellungen, als es die Achtung der nationalen Identität nach Art. I-5 Abs 1 VVE (Art. 6 Abs 3 EUV) gebietet. Nicht zuletzt in Hinblick auf den rechtlich unverbindlichen Status der „Amsterdamer Kirchenerklärung“ wurde vielfach betont, dass die sich historisch entwickelte Ordnung zwischen Staat und Kirche einen Bestandteil der nationalen Identität bildet. Art. I-5 VVE kann somit als Beleg dafür gewertet werden, dass der Kirchenartikel keine systemfremde „Integrationsbremse“ darstellt, sondern Teil der Gesamtkonzeption zur Abstimmung von Vielfalt und Einheit ist.

 

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie der Begriff des Status in Art. I-52 VVE zu verstehen ist. Insbesondere kann diese Bestimmung nicht dazu führen, dass sämtliche einzelstaatliche einfachgesetzliche Regelungen, aus denen Religionsgemeinschaften ihre Rechte beziehen, vor Einwirkungen des europäischen Rechts geschützt sind, bzw. alle Auswirkungen, die europarechtliche Vorschriften bereits jetzt auf die rechtliche Stellung der Kirchen haben (z.B. Finanzierung, etc. ), nach Primärrecht als unzulässig betrachtet werden müssen. Die europäische Rechtsetzung kann nicht in jeder Einzelfrage die Besonderheiten der religionsrechtlichen Regelungen sämtlicher Mitgliedstaaten berücksichtigen. Dies würde zu einer generellen Bereichsausnahme führen und die Verwirklichung der Ziele der Union beeinträchtigen. Andererseits nähme ein allzu enges Verständnis von Art. I- 52 VVE, wonach der Status der Kirchen nur in einem engen organisationsrechtlichen Rahmen vor Beeinträchtigungen durch die Union geschützt ist, dieser Bestimmung ihren Sinn.

 

Richtigerweise ist daher davon auszugehen, dass eine religionsrechtliche Vorschrift umso eher vom Beeinträchtigungsverbot des Art. I-52 VVE erfasst ist, je stärker sie Ausdruck der generellen Regelung des Staat-Kirche-Verhältnisses in dem jeweiligen Mitgliedstaat ist. Einer weiten Auslegung zugunsten der Wahrung nationaler Besonderheiten sollte daher grundsätzlich der Vorzug gegeben werden.  

 

 

b)     Art. I-52 Abs 3 - Dialog zwischen Union und Religionsgemeinschaft

 

Eine besondere Berücksichtigung und explizite Anerkennung ihrer „Identität und ihres besonderen Beitrags“ erfahren Kirchen und Religionsgemeinschaften durch den, über den Inhalt der Amsterdamer Kirchenerklärung hinausgehenden, Absatz 3. Wenngleich sprachlich unklar ist worin der besondere Beitrag besteht, erlangt Absatz 3 seine Bedeutung durch die erstmals primärrechtliche Wahrnehmung und Anerkennung von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Diese Regelung entspricht nicht nur der Entwicklung der Union von einer Wirtschafts- zu einer umfassend politisch ausgerichteten Gemeinschaft, sondern einem kirchlichen Anliegen, wonach die Einordnung der Kirchen als Teil der Zivilgesellschaft nicht ihrem eigenen Selbstverständnis entspräche und sie damit nicht ausreichend in ihren Besonderheiten erfasst seien.

 

Folgerichtig werden Kirchen und Religionsgemeinschaften nunmehr in ihrer eigentlichen religiösen Funktion anerkannt und nicht nur als repräsentative Verbände oder Akteure der Gemeinschaft, mit denen die Unionsorgane gemäß Art. I-47 VVE ebenfalls einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog pflegen, betrachtet. Im Unterschied zu gesellschaftlichen Interessenverbänden vertreten Religionsgemeinschaft oftmals nicht nur partikulare Interessen, sondern sehen sich in ihrem Selbstverständnis mit der Sorge um das Gemeinwohl betraut. In Ausübung dieses Öffentlichkeitsauftrages pflegen sie die ethischen Grundlagen der Gesellschaft und entlasten den Staat durch karikative Tätigkeiten sowie durch Engagement im Schulbereich. Damit leisten sie, um in Jacques Delors Worten zu sprechen, einen Beitrag dazu „Europa eine Seele“ zu geben. Art. I-52 VVE betont diese besondere Bedeutung von Kirchen und Religionsgemeinschaften, deren speziellen Auftrag es nicht gerecht würde, sie unterschiedslos den übrigen Verbänden und Vereinigungen gleichzustellen.

 

In Hinblick auf den in Absatz 3 institutionalisierten regelmäßigen Dialog zwischen der Union und den Kirchen, werden letztere ausdrücklich als legitimer Partner im Prozess der europäischen Einigung anerkannt. Die konkrete Ausgestaltung und der Ablauf dieser Norm werden sich künftig im Einvernehmen zwischen den Unionsorganen und den Religions-gemeinschaften herausbilden. Probleme könnte es hierbei in zweierlei Hinsicht geben.

 

Zum einen könnte es der Effizienz und dem Einfluss eines Dialogs entgegenstehen, wenn die Union mit einer allzu großen Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Vereinigungen konfrontiert wird, welche mit ihr in Dialog treten wollen. Die christlichen Kirchen haben darauf bereits mit - in Brüssel stationierten - Interessensvertretungen, als solche die „Kommission für Kirche und Gesellschaft“ innerhalb der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) für die protestantischen und orthodoxen Kirchen sowie die römisch-katholische Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaften (COMECE), reagiert. Dergleichen fällt Angehörigen einer Religion wie dem Islam, dem kirchenähnliche Strukturen fremd sind, schwer. Worin die Interessen der Muslime liegen kann nicht die Union als quasi Schiedsrichter in innermuslimischen Angelegenheiten entscheiden, sondern müssen die Muslime selbst herausfinden. Andererseits wird ein Dialog nur dann erfolgreich sein, wenn den Organen eine überschaubare Anzahl von Dialogpartnern gegenübersteht, die über innere Legitimation verfügen.

Zu beachten ist weiters, dass die Union zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist.

 

Ein anderes Problem stellt die Frage dar, mit wem die Union Dialog führen muss. Die generelle Offenheit der Union gegenüber potentiellen Dialogpartnern stößt an ihre Grenzen, wenn es um Vereinigungen geht, welche unter dem religiösen Deckmantel gemeinwohl-gefährdende Aktionen oder sogar Straftaten tarnen (z.B. militant islamische Organisationen, obskure Jugend und Psychogruppen). Um den Schutz grundlegender Werte zu sichern, zu denen nach Art. I-2 VVE die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte zählt, muss die Dialogbereitschaft der Union in diesen Fällen enden.

 

Schutz religiöser Riten

 

Zuletzt sei noch auf Art. III-121 VVE hingewiesen, der entsprechend dem Protokoll über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere von 1997, vorsieht, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Binnenmarkt, etc. Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten, insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und dem regionalem Erbe, zu berücksichtigen sind.

 

Conclusio

 

Abschließend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Schutz von Religion und Weltanschauung durch die Europäische Verfassung - im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand - gestärkt wurde. Nicht nur die grundrechtlichen Gewährleistungen des einzelnen (individuelle und kollektive Religionsfreiheit), sondern auch die Rechtsposition von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften als explizit benannte Institutionen und eigenständige Grundrechtsträger (korporative Religionsfreiheit) haben eine deutliche Verbesserung erfahren. Speziell Art. I-52 VVE - als Ausdruck einer generellen Achtung der nationalen Identität und Vielfalt - garantiert den Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten die Erhaltung nationaler Besonderheiten und anerkennt deren Bedeutung für eine pluralistische Gesellschaft.

 

 

Literatur:

 

Harald Dossi/Christine Stix-Hackl in Werner Doralt (Hrsg), EU Kodex – Europarecht, Verfassungsrecht der Europäischen Union, 9. Auflage 2005.

 

Grundrechte-Charta der Europäischen Union – Erläuterungen zum endgültigen Text-Entwurf des Konvents, EuGRZ 2000 Heft 17-19, 559ff.

 

Stefan Muckel, Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, DÖV 2005 Heft 5, 191ff.

 

Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht (Wien 2003).

 

Thomas Schmitz, die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, EuR 2004 Heft 5, 69 ff.

 

Matthias Triebel, Europa und die Kirchen, NomoK@non – Webdokument: http://www.nomokanon.de/abhandlungen/004_text.htm, Rn 1-33.

 

Religionsrechtliche Bestimmungen in der Europäischen Union,

http://www.uni-trier.de/~ievr/EUreligionsrecht/DeutschTeilI.pdf.


 

Fragen & Kommentare

an

www.religionsfreiheit.at